Interview in Brigitte Woman, 2016 |
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Es ist Zeit für berufliche Veränderung Link zum Artikel auf BrigitteWoman.de |
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Die Zeit, 5. April 2001 |
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Spiel mit den Möglichkeiten Zu lange studiert, zu wenige Praktika. Ein Coach zeigt, wie man dennoch den Weg in den Beruf findet. Protokoll einer Beratung MICHAEL ZIMMERMANN: In meinem Alter sollte man entweder bereits Professor sein, einen Roman geschrieben oder eine Firma geleitet haben, zumindest eine Dotcom. Ich weiß. DORIS HARTMANN: Wenn Sie immer nur daran denken, »wie man sein sollte«, dann sind Sie Verlierer, weil Ihre Biografie dem gesellschaftlich Erwünschten, wie Sie es beschreiben, nicht entspricht. Dabei haben Sie doch so viele Kompetenzen vorzuweisen. Eine Biografie in Schräglage. Michael Zimmermann ist Lebenskünstler und Langzeitstudent. Der 29-Jährige hat als Stammsänger im Berliner Schmalzwald-Klub gearbeitet, zwei Musikgruppen gegründet, mit denen er außer in Kneipen bei Vernissagen und Filmfestivals auftritt; hat für Zeitschriften mit Namen wie Middle Class Pig und Schlag und Sahne Comicstrips gezeichnet und so viel gelesen, dass er sich bei Günther Jauch gute Chancen auf die Million ausrechnen würde, wenn er doch erst einmal Kandidat wäre. Aber RTL hat den Anrufbeantworter geschaltet und ruft nicht zurück. Und im Studienausweis stehen 19 Semester Kunstgeschichte und Germanistik. Nicht gerade das, was Unternehmen, die heutzutage Jobs zu vergeben haben, suchen. Im Kopf hat Michael Zimmermann den Vorzeigelebenslauf. Vielleicht hat er deshalb so lange gezögert mit den Bewerbungen; die erste schrieb er sechs Monate nach dem Examen, als ihn »periodische Anfälle von Verzweiflung« nachts aus dem Schlaf schreckten. Seit kurzem ist der sympathische Schwabe nun Praktikant bei der Hamburger Werbeagentur Scholz & Friendsund Kunde bei Doris Hartmann. Sie ist Karriereberaterin, und was Coaching ist weder Psychotherapie noch klassische Berufsberatung. Doris Hartmann will den Blick ihrer Kunden für die eigenen Stärken und Schwächen schärfen, damit sie sich im Berufsleben besser »orientieren und positionieren« können. Ihre Devise dabei ist: Sich nicht passend machen, sondern sich etwas Passendes suchen. Also nicht nur danach schielen: Was will die Gesellschaft? Sondern sich fragen: Was will ich? So wird Coaching zum aufschlussreichen Selbstfindungsprozess. Doris Hartmann leitet ihn mit der Frage nach den Werten ein, denen man sich im Leben verpflichtet fühlt. Denn Werte, so die Soziologin, steuern unseren Lebensentwurf und bestimmen die Art und Weise, wie man sein Berufs- und Privatleben gestalten will. Nach zwei Sitzungen und etlichen Fragebögen ist klar, welche Werte bei Michael Zimmermann oberste Priorität haben: Lebensfreude, Liebe und Harmonie. Für die jedenfalls würde er sein Leben riskieren. Aber auch Sicherheit und Autonomie sind ihm wichtig. HARTMANN: Diese Werte prägen Ihr Verhalten. Sie geben Aufschluss über Ihre Stärken und Schwächen und damit auch darüber, in welche Richtung es beruflich gehen kann. Menschen mit dem zentralen Wert Lebensfreude etwa sind optimistisch, belastbar und zupackend und denken in der Regel sehr lösungsorientiert, nicht problemorientiert. Aber Achtung: Weil Sie schneller sind als andere, laufen Sie Gefahr, andere zu überrollen. Sie sind wenig tolerant gegenüber Schwächeren. Wenn man nur diesen Wert betrachtet, sind Sie beruflich immer dort an der richtigen Stelle, wo Sie eine Pionierarbeit leisten, etwas Neues aufbauen, entwickeln müssen. ZIMMERMANN: Vielleicht steht mir für eine Pionierleistung manchmal mein Wunsch nach Harmonie im Weg. HARTMANN: Harmoniemenschen werden häufig als konfliktscheu etikettiert. Ich möchte aber eine Lanze brechen für die Harmonie. Aus meiner Sicht ist das der Wert der Zukunft. Denn diese Menschen sind gute Teamplayer. Es gelingt ihnen, die unterschiedlichsten Mitarbeiter im Team zu integrieren, was in Zeiten der Globalisierung eine große Stärke ist. Natürlich kostet es im Arbeitsalltag viel Zeit, wenn man den unterschiedlichen Bedürfnissen vieler Menschen gerecht werden will, doch ich bin der Auffassung, dass sich der Aufwand langfristig lohnt. ZIMMERMANN: Ein sehr wichtiger Wert ist für mich aber auch die Autonomie. HARTMANN: Eine berufliche Katastrophe wären Sie damit in der Buchhaltung, Revision oder im Controlling. Denn was Sie nicht gerne tun, ist andere kontrollieren. Den Freiraum, den Sie für sich in Anspruch nehmen, gewähren Sie auch gerne anderen. Auch zu delegieren fällt Ihnen schwer. Liege ich richtig? ZIMMERMANN: Ich habe mich gerade um eine Beschäftigung beim Hamburger Filmfest beworben, dann aber schnell gemerkt, dass es dabei um eine Stelle ging, bei der ich genau das hätte tun müssen: organisieren und delegieren. Das ist nichts für mich. HARTMANN: Die Faustregel bei der Suche nach einer Beschäftigung heißt für Sie also: Der Job muss Ihnen Freiraum fürs Gestalten lassen, Sie müssen an etwas Neuem arbeiten dürfen, und das am besten im Team. Mit der Werbebranche sind Sie da gar nicht schlecht beraten. Schwierig wird es nur mit dem Wert Sicherheit. Am liebsten wollen Sie ja mit Ihrem Arbeitgeber alt werden. Stimmt's? ZIMMERMANN: Stimmt schon. Immerhin hängt in der Agentur ein schönes Plakat aus den Fünfzigern: "Betriebstreue gilt auch für Dich". HARTMANN: Werber wechseln wohl in der Branche mal die Flagge, unter der sie arbeiten. Aber letztlich bleibt man doch immer unter sich und kennt sich. Es muss ja nicht das einzelne Unternehmen sein, das in Ihnen das Bedürfnis nach Sicherheit und Beständigkeit befriedigt, es kann ja auch die Branche sein. Kindheitserinnerungen sind hilfreich, wenn man nach seinen Werten forscht. Auch Gegenstände, von denen man sich nicht trennen will. Michael Zimmermann hat viele davon. Typisch für Menschen, die Wert auf Selbstbestimmung legen, erklärt ihm sein Coach. Die sammeln alles, was ihre Biografie dokumentiert. Wer weiß, was ihm wichtig ist, weiß aber noch lange nicht, was er kann. Mit Kunden, die bereits viele Jahre Berufserfahrung hinter sich haben, analysiert Doris Hartmann deshalb lang und ausführlich die erworbenen Kompetenzen. Bei Berufseinsteigern geht es schneller. MICHAEL ZIMMERMANN: Ich verstehe etwas von Bildbeschreibung und Textinterpretationen. Am meisten interessierten mich im Studium die Themen an der Schnittstelle zwischen Kunstgeschichte und Germanistik. Mit Wort-Bild-Verbindungen etwa habe ich mich ausgiebig beschäftigt. HARTMANN: Wie ist es mit Sprachen? ZIMMERMANN: Ich bedauere hin und wieder, dass ich manche Dinge in der Vergangenheit nicht so intensiv betrieben habe, wie ich es vielleicht hätte tun sollen. Ich kann gut Englisch und in vielen Sprachen radebrechen. Aber ich habe diese Sprachen eben nicht perfektioniert. Möglicherweise auch aus Sicherheitsgründen nicht, denn wer sich einer Herausforderung stellt, kann ja auch scheitern. Ich brauche immer einen Anstoß, einen gewissen Druck von außen. HARTMANN: Wenn Sie der Vergangenheit nachhängen nach dem Motto: »Ach, hätte ich doch«, verpulvern Sie nur unnötig Energie. Konzentrieren Sie sich auf das Hier und Jetzt. Das sollte Ihre Grundhaltung werden. Vierte Sitzung. Doris Hartmann und Michael Zimmermann suchen gemeinsam nach passenden Berufen. Erlaubt ist, was gefällt: vom Kunstreiseführer zum Nachlassverwalter von Kunst und Literatur über den Künstleragenten bis zum Entertainer. Michael Zimmermann soll den Dialog aufnehmen mit der Berufswelt. Das Spiel mit den Möglichkeiten ist dabei der Small Talk, das Vorgespräch. Es darf auch geträumt werden. HARTMANN: Gibt es etwas, das Sie gerne tun würden, von dem Sie aber keine Ahnung haben? ZIMMERMANN: Ich würde gerne mal in einem richtig guten Film mitspielen, große Kunst machen, als Filmausstatter arbeiten, Wohnungen für reiche Leute einrichten. HARTMANN: Was davon wird vermutlich immer ein Traum bleiben? ZIMMERMANN: Da haben Sie wieder meine grundsätzliche Zuversicht: Alles ist möglich. HARTMANN: Ich möchte nicht dem Traumberuf das Wort reden. Aber hinter den Träumen steckt eine Philosophie, die sich durchaus auch in völlig anderen Berufen einbringen lässt. Wer seiner Philosophie treu bleibt, wird im Berufsleben nicht immer den geraden Weg gehen. ZIMMERMANN: Mir fällt es jedoch schon schwer loszugehen. Es hat ewig gedauert, bis ich meinen Lebenslauf und dieses lächerlich kleine Anschreiben für die Praktikumsbewerbung geschrieben hatte. HARTMANN: Ihr Problem ist: Sie legen sich nicht gerne fest. Sie haben mehrere Stärken und Angst davor, Optionen zu vertun, wenn Sie sich auf eine HARTMANN: Für die Vermarktung Ihrer Kompetenzen rate ich Ihnen, sich grundsätzlich als Problemlöser, nicht nur als Aufgabenerfüller zu verstehen und im Berufsalltag und in Bewerbungen darzustellen. Machen Sie den Nutzen Ihrer Tätigkeit für andere sichtbar. Ihr Chef will nicht wissen, was Sie alles tun und können, sondern, was er davon hat. Das geht Ihnen doch auch so. Ein Beispiel: Wenn Sie sich im Laden einen Mantel kaufen, dann interessieren Sie sich sicher nicht für die vielfältigen Aufgaben, die der Modehandel erfordert, um perfekt zu funktionieren. Allerdings ärgern Sie sich sofort, wenn Sie das, was Sie suchen, nicht finden oder es an einer falschen Stelle hängt. Überprüfen Sie einmal, welche Aufgaben Sie in der Agentur erfüllen und welche Probleme Sie damit lösen. ZIMMERMANN: Ich habe zum Beispiel in einer Broschüre österreichischen Hausfrauen die Internet-Seite von Eduscho erklärt. HARTMANN: Sie sorgen durch die Aufbereitung von Werbeinformationen für einen optimalen Aufmerksamkeitsgrad bei einer bestimmten Zielgruppe, so könnte man die Problemlösung formulieren. Mein Rat für das Marketing in eigener Sache: Schauen Sie, was Sie wem zu bieten haben. Dann schicken Sie ein Initiativangebot los, eine Kurzbewerbung an bestimmte Zielgruppen. So machen Sie Ihren eigenen Markt auf, der zu Ihnen passt und den Sie nicht in der Zeitung finden. Schließlich sind Sie ja ein Typ mit - wie sagt man? - schrägem Lebenlauf. Er werde jetzt nicht sofort bei allen Millionären in Moskau und Los Angeles anfragen, ob er ihnen die Wohnung einrichten darf. Aber Michael Zimmermann ist mit Verlauf und Ergebnis des Coaching zufrieden: Er ist sich jetzt im Klaren darüber, welche Ansprüche er an den Beruf stellt und wie er seine Kompetenzen verkaufen kann. Sollte es zu keiner Festanstellung in der Werbung kommen, schreibt er vielleicht eine Kurzbewerbung an Günther Jauch: Wenn schon nicht Kandidat, dann will er wenigstens der sein, der sich die Fragen für die Sendung ausdenkt. |
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